Aufnehmen statt Sterben lassen!

Zwischen Wut, Verzweiflung und Resignation – Eindrücke einer Seebrücke Aktivistin in Aschaffenburg

„Erdogan öffnet Grenzen für Flüchtlinge.“1, Athen setzt für einen Monat Recht auf Asyl aus“2, „Rechtsradikale „übernehmen“ Lesbos und verprügeln Menschen“ 3, „Tausende demonstrieren in Berlin für Öffnung der EU-Grenzen“4

Erinnert ihr euch an diese Schlagzeilen? Stimmt, das war bevor Corona die alleinige Herrschaft über alle Gesprächsthemen an sich gerissen hat. Gefühlt sind Ewigkeiten seitdem vergangen, nicht erst 2-3 Wochen. Doch was passiert jetzt eigentlich mit den Menschen in Lagern wie in Griechenland und Libyen?

Am 7.3. folgten knapp 100 Aschaffenburger*innen dem bundesweiten Aufruf der Seebrücke zum Protest gegen die katastrophale Situation für Flüchtende an der türkisch-griechischen Grenze.

Nicht wenige Teilnehmer*innen für Aschaffenburg, dennoch eine bedrückend niedrige Zahl betrachtet man die Dramatik der aktuellen Lage – massive Menschenrechtsverletzungen, Hunger, Tod und Gewalt, verstärkt oder sogar erst hervorgerufen durch einen von Deutschland mitfinanzierten Grenzschutz, u.a. durch Frontex.

Wir haben lange innerhalb der Organisationsgruppe diskutiert, ob Kundgebungen noch das angemessene Mittel sein können und wieviel Wirksamkeit wir uns daraus erhoffen.

Doch was wären die Alternativen? Nichts tun? Radikalere Aktionen als Reaktion auf die radikalere Unmenschlichkeit von Politik und Faschist*innen? Aber wen erreicht man mit anderen Aktionsformen? Gibt man dann nicht gerade die Form von zugänglichem und niedrigschwelligem Protest auf, den sich Menschen wünschen, die sich ähnlich verzweifelt fühlen angesichts ihrer Hilflosigkeit etwas zu verändern?

Man fragt sich was der Protest von Tausenden Menschen in hunderten Städten und die Positionierungen durch Zivilbevölkerung, Presse und sogar innerhalb der Kirche bewirken sollen, wenn doch keinerlei Veränderung der politischen Richtung absehbar ist.

Wie konnte es soweit kommen, dass Werte wie Gemeinschaft und Solidarität so erschreckend oft durch Angst, Wut und Hetze ersetzt werden? Wie kann es sein, dass Politiker*innen, Entscheidungen treffen, in dem klaren Bewusstsein, dass die Folgen für viele Menschen Hunger, Elend und Tod sind?

Bei der Kundgebung wurden wir von einem älteren Pärchen angesprochen, dass „die Asylanten doch alle nur kommen, weil sie in Wohlstand leben wollen“.

JA, VERDAMMT NOCHMAL! Natürlich wollen „die“ das!

Sicherheit und „Normalität“. Arbeiten gehen und eigenes Geld verdienen. Eine Wohnung mit Heizung an Stelle eines Zelts bei Minusgraden. Im Supermarkt einkaufen. Kochen. Freund*innen treffen. Ins Kino gehen… Eben das, was vermutlich jeder Mensch will: Ein Leben in Sicherheit und ohne Angst vor Bomben und Verfolgung, vor Hunger, Armut und Kälte.

Nur leider sind das erstmal die unwahrscheinlichsten Perspektiven. Selbst für die, die es schaffen tausende Kilometer hinter sich zu bringen, Wüsten zu durchqueren, lebend übers Meer zu gelangen, die jahrelang an irgendwelchen Grenzen in Lagern mit Tausenden von Menschen hausen, selbst die, die es nach Europa oder sogar nach Deutschland schaffen, leben oft jahrelang in Unterkünften mit ihnen unbekannten Menschen in einem Zimmer, dürfen weder arbeiten noch eine eigene Wohnung beziehen, leben jeden Tag aufs Neue in der Angst vor rassistischen Angriffen oder abgeschoben zu werden. Zurück in Krieg oder Armut.

Doch es bleibt dabei. Man interessiert sich nicht für Argumente. Es geht ums Prinzip. Schon lange nicht mehr um Menschenleben.

Nach der Kundgebung kamen motivierende Worte des Dankes für die Organisation und Betonung der Wichtigkeit nicht aufzuhören und aufzugeben. Vielleicht ist doch nicht alles umsonst und man erreicht zumindest in Aschaffenburg einige Menschen.

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Doch am Abend folgt die nächste Katastrophe: das Community Center One Happy Family brennt eben in diesem Moment ab.

Das Schweizer Gemeinschaftszentrum auf Lesbos ist ein wundervoller Ort der Hoffnung und der Solidarität in einer Situation, die eigentlich von völliger Hoffnungslosigkeit beherrscht wird. Seit der Eröffnung des Lagers im Frühling 2017 existiert diese Einrichtung und bietet den Menschen aus den Lagern auf kleinstem Platz eine Form von „Normalität“ und den Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen. Es gibt Orte der Bildung, Schulen für Kinder und eine Bibliothek; außerdem eine Werkstatt beispielsweise um Handys und die Zelte, in denen die Menschen leben, zu reparieren; ein Café, Orte für Musik und Sport, Computer, Spielplätze und einen Garten zur Selbstversorgung.

„When I want to forget everything, when I want to leave Moria – a place like hell – behind me, then I´m coming here. Even if it takes one hour…“5

Schule, Büros und andere kleine Gebäude dieses Ortes der Hoffnung sind über Nacht bis auf die Grundmauern abgebrannt. Die Brandursache ist nicht geklärt. Bekannt ist allerdings, dass es in den letzten Tagen zu unzähligen Gewaltübergriffen durch Faschist*innen kam und mehrere Feuer gelegt wurden.6

Doch bis heute finden sich leider nur begrenzt Informationen dazu in den Medien. Die Katastrophen überschlagen sich in einem Tempo, dass für solche Themen kein Platz und keine Aufmerksamkeit zu sein scheint.

Erfreulich und überraschend klar dafür dann am 07.03. das „Wort zum Sonntag“ im Ersten durch Pastorin Annette Behnken. Sie betont, dass sich die Grenze unserer Menschlichkeit an den Grenzen Europas zeige. Behnken beschreibt ihre Fassungslosigkeit über die Handlungen der EU und fordert dazu auf, auf die Straßen zu gehen und zu demonstrieren; ruft dazu auf, die „Neofaschisten“ in den Parlamenten zu stürzen…

„Es gibt viele, die wollen helfen und können nicht. Städte, Kommunen, Kirchengemeinden, zivilgesellschaftliche Gruppen werden ausgebremst von politischen Strukturen und der jüngsten Entscheidung des Bundestags, nicht einmal die Schwächsten der Schwächsten aufzunehmen: Kinder auf der Flucht. Ich verstehe das nicht. Und die EU zahlt 700 Millionen Euro „Soforthilfe“, aber nicht etwa um zu helfen, sondern um uns Menschen in Not vom Hals zu halten. Mit Verlaub: ICH KÖNNTE KOTZEN!“7

Andrea Lindholz (CSU), die Bundestagsabgeordnete aus Aschaffenburg, dagegen spricht sich für eine erneute Grenzschließung aus. Sie spricht von einem Schutz der Außengrenzen statt vom Schutz der Menschen. Beschreibt den Beschluss Griechenlands keine Asylanträge anzunehmen für „in Ordnung“. Und das, obwohl diese Maßnahmen jeglicher Rechtsstaatlichkeit widersprechen und umfassende völkerrechtliche Verstöße darstellen.8

Laut ProAsyl sitzen aktuell rund 40.000 Menschen auf den griechischen Inseln fest (Stand: März 2020). Diese Menschen haben keine Chance auf ein faires Asylverfahren, leben unter elenden Umständen, ohne Schutz, ohne Perspektiven. In den Lagern mangelt es den Menschen an allem: Unterkünften, Nahrungsmitteln, medizinischer Basisversorgung.9

Vergangenen Montag (16.03.2020) kam bei einem Brand ein sechsjähriges Mädchen ums Leben. Durch die dichte Aneinanderreihung von Containern und provisorischen Unterkünften gab es Schwierigkeiten den Brandherd zu erreichen. Das Feuer konnte erst nach einer Stunde gelöscht werden. In den Camps kommt es durch die offenen Feuerstellen, an denen sich die Menschen Wasser erhitzen oder kochen, häufiger zu Bränden.10

Doch davon bekommen wir in Europa nicht mehr viel mit. Die Medien fokussieren sich auf „Corona“ und wir Bürger*innen haben keine Zeit mehr uns mit anderen Themen zu beschäftigen. Die Forderungen, die Menschen aus den Lagern zu evakuieren geraten ins Abseits. Der Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen, Florian Westphal, beschreibt, welche katastrophalen Auswirkungen ein Ausbruch des Virus in einem der überfüllten Lager hätte.

„Es wäre unmöglich, unter den unhygienischen Bedingungen in Moria einen Ausbruch einzudämmen“, sagte Westphal der Zeitung „Die Welt“ mit Blick auf das völlig überfüllte Camp auf der Insel Lesbos. Es sei deswegen „dringender denn je, die Lager zu evakuieren und die Menschen in eine sichere Umgebung zu bringen“.11

Deshalb ist es umso wichtiger die Thematik wieder in den Vordergrund zu rücken!

Wir schließen uns den Forderungen von Seebrücke, Flüchtlingsräten und weiteren Organisationen an.

Wir fordern:

• Die sofortige Evakuierung aller Migrant*innen von den griechischen Inseln und aus allen überfüllten Lagersituationen

• Effektive Schutzmaßnahmen gegen den Corona-Virus für Migrant*innen

• Den sofortigen Stopp der staatlichen Gewalt und der Ermordung von Migrant*innen an den Außengrenzen

• Die sofortige Beendigung des EU-Türkei Deals

• Eine aktive EU-Politik um die gewaltsame Vertreibung von Millionen von Menschen in Syrien zu beenden

• Die Wiederherstellung des Asylrechts, rechtsstaatlicher Asylverfahren und die Demilitarisierung der Außengrenze

• Die Einhaltung geltender Völker-, Menschen- und Europarechtlicher Vorgaben beim Umgang mit den ankommenden Menschen

• Die Aufnahme der Menschen in den Solidarischen Städten,

• Eine europäische Politik, die selbst nicht andauernd Fluchtursachen produziert

Bleiben wir widerständig und solidarisch – trotz oder gerade wegen Corona.

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2 Antworten

  1. Anne Büttner sagt:

    Ich sehe es auch so, es interessiert niemanden mehr was mit den Flüchtlingen passiert. Gott sei dank sind die Flüchtlinge nicht schuld an diesen Corona Virus 🦠 Unter meinen Bekannten gibt es leider auch viele
    die Hetz Gespräche führen. Diese Bekannten haben noch nie eine Erfahrung gemacht mit Asylbewerber, ich schon und diese Erfahrung waren für mich wunderschön. Übrigens hat der Schweinheimer Pfarrer Markus Kraut eine super gute Pretigt diesbezüglich gehalten. Wer weiß vielleicht haben wir auch den Corona Virus geschickt bekommen um einmal darüber nachdenken wie gut es uns geht.

  2. Tacko sagt:

    Hallo Anne, zum Thema „Ursprung der Pandemie“ ist die Lage zwar noch nicht ganz klar, aber

    „Das auslösende Virus stammt wahrscheinlich aus dem Tierreich (Zoonose), wobei das Erregerreservoir bislang nicht klar ist. Verdächtigt werden Fledermäuse, von denen das Virus über einen Zwischenwirt, wahrscheinlich ein weiteres Säugetier, auf den Menschen überging…“ (Auszug aus: https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie#Ursprung)

    Ich denke auch dieses Rätsel wird die Wissenschaft noch lösen.

    Ansonsten die Empfehlung bei Hetze in Gesprächen: immer argumentativ entgegenhalten. Nicht schweigen und nicht weghören. Das war, ist und bleibt wichtig.

    Viele Grüße!

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