Interview: Aschaffenburg erklärt sich zum „sicheren Hafen“
Am 06.05.2019 hat der Stadtrat beschlossen, Aschaffenburg zum „sicheren Hafen“ zu erklären. Seit Monaten arbeitete die Initiative von Solidarity City Aschaffenburg auf dieses Ziel hin. Anknüpfend an unseren Vorabbericht vom 29.04.2019, stellten wir den Initiator*innen einige Fragen wie es zum Beschluss kam, was dieser praktisch bedeutet und welche Pläne die Initiative für die Zukunft hat.
361°: Der Stadtrat Aschaffenburg hat per Beschluss vom 06.05. die Stadt zu einem „sicheren Hafen“ erklärt. Als Teil der Initiative #Seebrücke habt ihr von Solidarity City Aschaffenburg lange darauf hingearbeitet. Seht ihr mit dem jetzigen Beschluss eure Ziele erreicht?
Seit Sommer letzten Jahres haben wir mit Hilfe unterschiedlicher Aktionen versucht, auf die europäische Abschottungspolitik, die zunehmenden Asylrechtsverschärfungen sowie auf das Sterben Geflüchteter im Mittelmeer und die Kriminalisierung von Seenotrettung aufmerksam zu machen.
Mit dem Ziel, dass sich Aschaffenburg zu einem sicheren Hafen erklärt, haben wir die Forderungen aufgestellt, jede Form der Kriminalisierung von Seenotrettung zu verurteilen, die Stadt zu einem Ort zum Ankommen – zu einem sicheren Hafen – für Gerettete aus dem Mittelmeer zu erklären und deren Aufnahme offensiv anzubieten. Außerdem sollen die Behörden angewiesen werden, alle Möglichkeiten zu nutzen, Visa und Gruppenbleiberechte für Gerettete auszustellen.
Um auf die Frage zurückzukommen: Ja, Aschaffenburg hat sich im Rahmen eines Stadtratsbeschluss zu einem sicheren Hafen erklärt. Aber: Nein, wir sehen unsere Ziele als nicht erreicht an.
So hat sich der Stadtrat nicht gegen eine Kriminalisierung von Seenotrettung ausgesprochen, sondern sich „nur“ zum sicheren Hafen erklärt und sich für eine Aufnahme weiterer Geflüchtete ausgesprochen. Die Positionierung gegen die Kriminalisierung wäre für uns jedoch der wichtigste Punkt gewesen.
Die Frage, die sich uns stellt, ist: Was bringen sichere Häfen für aus Seenot gerettete Menschen, wenn keine Seenotrettung existiert und keine Menschen gerettet werden können?
Die Kriminalisierung von Seenotrettung sorgt dafür, dass Menschen, die Geflüchtete vor dem Ertrinken gerettet haben, als Schlepper diffamiert werden und Seenotrettung auf dem Mittelmeer aktuell kaum noch stattfinden kann.
Und ganz grundsätzlich gilt: Solange Menschen im Mittelmeer ertrinken, sind die Ziele der Seebrücke Kampagne nicht erreicht.
361°: Woran lag es, dass eure Forderungen nicht im Gesamten angenommen wurden? Wie positionierten sich die einzelnen Fraktionen in der Stadtratssitzung?
Die Stadtverwaltung hat den Antrag, der über die Kommunale Initiative (KI) in den Stadtrat getragen worden ist, bereits im Vorfeld mit dem Verweis auf die mangelnde „Befassungskompetenz“ um zwei Punkte gekürzt. Außerdem wurde betont, dass die Beschlüsse symbolischen Charakter hätten, da die endgültigen Entscheidungen bei Bund und BAMF liegen würden. Außerdem betonte die Verwaltung, dass Menschen aus dem Mittelmeer gerettet und vernünftig untergebracht werden müssten. Allerdings wurde darauf hingewiesen, dass es nicht sinnvoll wäre, Menschen, die aus Seenot gerettet werden, zu bevorzugen, da es dazu führen würde, dass mehr Menschen übers Mittelmeer fliehen.
Kommunale Initiative, die Grünen und ÖDP haben sich ganz klar für den Beschluss zum sicheren Hafen ausgesprochen und betonten die Wichtigkeit einer Entkriminalisierung von Seenotrettung. Um etwas gegen das Sterben zu tun müsse auch Aschaffenburg handeln und sich deutlich positionieren. Argumente waren unter anderem, dass eher Geld in Seenotrettung als in Diktaturen gesteckt werden sollte und dass Europa eine große Mitschuld an der Klimakrise trägt, die bewirkt, dass viele Menschen fliehen müssen. Außerdem sei, so ÖDP, der Begriff (mangelnde) Befassungskompetenz frei erfunden und stehe im Gegensatz zur Meinungsfreiheit. Zudem betonte ein Stadtrat der KI, dass man nicht mehr von einer Verbesserung in den Herkunftsländern und falschen Signalen sprechen bräuchte, da Hunger, Armut, Krieg und Klimawandel von Europa mitverschuldet seien und es unsere Pflicht ist, uns um die Menschen zu kümmern. Der Stadtrat sei, so die Grünen, durchaus dazu befugt sich zu positionieren, um so Druck auf die Bundesregierung auszuüben. Eine Petition hebe zwar die Rechtsgrundlagen nicht auf, aber sei eine Meinungskundgebung und fordere die Bundesregierung zum Handeln auf.
Ein Vertreter der CSU erklärte demgegenüber, dass der Aschaffenburger Stadtrat wenig bis keine Einflussmöglichkeiten auf globale Ereignisse habe und die Stadt Aschaffenburg nichts „beweisen müsse“. Symbolpolitik gäbe Signale, aber ändere in der Praxis gar nichts. Weiter wurde betont, dass Aschaffenburg auch ohne diesen Beschluss bereits ein sicherer Hafen sei.
Außerdem wurde mehrfach davon gesprochen, dass mit der Kampagne Seebrücke „Fehlanreize“ für Geflüchtete geschaffen werden würden und es sich um eine „Förderung von Schleppertum“ („eines der lukrativsten Felder der organisierten Kriminalität“ – Zitat CSU) handeln würde. Stattdessen sollten lieber finanzielle Mittel in die Organisation von „Flüchtlingslagern“ in Afrika fließen, um den Menschen dort eine Perspektive geben zu können. (Wie soll man Menschen in einem Flüchtlingslager Perspektiven geben?)
Die SPD sprach sich generell erstmal für den Beschluss aus und lobte außerdem den bereits vorhandenen „guten Geist“ in Aschaffenburg, mit Migration umzugehen und Integration zu ermöglichen.
Die FDP sah sich nicht gezwungen, den vermeintlich bereits vorhandenen Status eines sicheren Hafens, bestätigen zu müssen. Sie verwiesen auf die hiesige Willkommenskultur und bestehende Ehrenamtsstrukturen. Zudem betitelten sie den Antrag als „nicht geeignet, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen“ und sprachen ebenfalls vcn „Fehlanreizen“.
Den Flüchtlingsstrom einzudämmen ist unserer Auffassung nach nicht das Ziel der Seebrücke-Kampagne. Ziel ist primär, das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Aber es scheint unterschiedliche Meinungen darüber zu geben, was Menschenleben wert sind, im Vergleich zu einer möglichen Förderung von Schlepper-Kriminalität.
Generell hatten wir den Eindruck, dass einige Parteien sich vorher kaum mit dem Thema befasst hatten. Aussagen wurden häufig wiederholt und waren teilweise auch nicht relevant für den eigentlichen Antrag.
361°: Welche konkreten Auswirkungen hat der Beschluss nun auf den Alltag von Geflüchteten, die ihren Wohnsitz in Aschaffenburg haben?
Konkrete Auswirkungen auf Menschen, die bereits in Aschaffenburg leben hat der Antrag nicht. Die Seebrücke-Kampagne fokusiert sich ja auch das Sterben (lassen) im Mittelmeer und nicht auf Integrationsmöglichkeiten in den Städten.
„Wir solidarisieren uns mit allen Menschen auf der Flucht und erwarten von der deutschen und europäischen Politik sofort sichere Fluchtwege, eine Entkriminalisierung der Seenotrettung und eine menschenwürdige Aufnahme der Menschen, die fliehen mussten oder noch auf der Flucht sind – kurz: Weg von Abschiebung und Abschottung und hin zu Bewegungsfreiheit für alle Menschen.“ (Seebrücke.org)
361°: Mitte April gab es wieder einen Abschiebeflieger nach Kabul. An Bord war auch ein Afghane der mehrere Jahre in der Gemeinschaftsunterkunft in Haibach untergebracht war. Hat der jetzige Beschluss auch Auswirkungen auf die gängige Abschiebepraxis?
Nein, leider nicht. Wie bereits in der vorherigen Antwort beschrieben, fokussiert sich Seebrücke eher auf das „Ankommen“. Hier (re)agieren dann andere politische Akteur*innen.
An dieser Stelle weisen wir auf die durch den Stadtrat beschlossene Resolution gegen Abschiebungen nach Afghanistan hin, welche ähnlich wie der Beschluss zum sicheren Hafen (leider) eher symbolischen Charakter hat.
361°: Vor der Stadtratssitzung wurden Oberbürgermeister Herzog Unterschriftenlisten übergeben, auf denen sich Bürger*innen zur Unterstützung eurer Petition ausgesprochen haben. Wie viele Unterschriften habt ihr insgesamt gesammelt? Was habt ihr neben der Unterschriftensammlung noch alles im Rahmen der Initiative getan?
Insgesamt haben mehr als 700 Aschaffenburger*innen unterzeichnet. Wir haben versucht, das Thema in der Öffentlichkeit mit unterschiedlichen Aktionen sichtbar zu machen. Der Startschuss war eine von der Grünen Jugend organisierte Kundgebung an der City Galerie, die für Aschaffenburger Verhältnisse sehr gut besucht war. Seitdem gab es regelmäßig öffentliche Aktionen oder Veranstaltungen, um das Thema weiter zu pushen.
Auf dem Kommz 2018 haben wir mit Vertreter*innen von SeaWatch Redebeiträge gehalten und einen Infostand zum Thema Seebrücke gemacht. Im Oktober letzten Jahres lief im Casino-Kino der Film Iuventa, bei dem auch Vertreter*innen der Seenotrettungsorganisation „Jugend rettet“ anwesend waren, mit denen im Anschluss diskutiert wurde. Im Frühjahr 2019 veranstalteten wir im Stern den Vortrag „Seenotrettung is not a Crime“ mit Teilen der Crew der Iuventa bzw. Solidarity at Sea. Des Weiteren haben wir uns auch an Kundgebungen und Demonstrationen in anderen Städten und bundesweit beteiligt wie beispielsweise mit einem Redebeitrag bei der Demonstration, um Darmstadt zum sicheren Hafen zu erklären oder bei der We´ll Come United Parade in Hamburg im September 2018.
361°: Die Kommunale Initiative (KI) und die Grünen hatten jeweils Anträge eingereicht, dass sich die Stadt zum sicheren Hafen erklären soll. Welche Rolle spielten die Wählerinitiative und die Partei bei der ganzen Geschichte? Sind beide Teil von „Seebrücke Aschaffenburg“?
Nein. Das waren zwei getrennte Anträge, die aber mehr oder weniger den selben Inhalt hatten. Der Antrag der Grünen war allerdings um zwei Forderungspunkte kürzer als unserer (der von der Kommunale Initiative für uns eingebracht wurde) und enthielt nicht die Entkriminalisierung der Seenotrettung. Dieser Punkt wurde allerdings nachträglich noch hinzugefügt.
Warum die Grünen einen zweiten Antrag gestellt haben, können wir nicht beantworten. Ob aus taktischen Gründen oder Distanzierung von der Bewegung oder Wahlkampf oder oder… ist uns nicht ersichtlich. Wichtig war uns auch nicht wer den Antrag stellt, sondern dass er beschlossen wird. Deshalb haben wir darauf verzichtet das zu thematisieren. Wobei wir es für sinnvoller und effektiver halten an einem Strang zu ziehen. Aber es hat ja alles (mehr oder weniger) geklappt 🙂
361°: Uns kam zu Ohren, dass der Grüne OB Kandidat Wagener eure Petition nicht unterschreiben wollte. Mit welcher Begründung?
Das kann man kurz halten. Er betonte, dass die Grünen unabhängig von der Initiative Seebrücke ihren eigenen Antrag gestellt hätten und dieser nichts mit der Initiative zu tun habe.
361°: Wie passt das zusammen, dass die Grünen – unabhängig von der realen Seebrücke-Bewegung- ihr eigenes Süppchen kochen, die Inhalte aber praktisch trotzdem aufgreifen? Eine Inszenierung als Teil des Wahlkampfspektakels? Oder Berührungsängste nach „links“?
Darüber könnten wir nur spekulieren. Wir haben bei vielen Stadträt*innen der Grünen nicht den Eindruck, dass es um eine Distanzierung geht. In der Vergangenheit wurde mit einigen auch schon zu verschiedenen Themen zusammengearbeitet.
Wir halten es für sinnvoller dieses Thema zuerst mit den Grünen zu besprechen, bevor wir uns hier irgendwelchen Mutmaßungen hingeben.
361°: Trotz des Beschlusses wird es mit Solidarity City Aschaffenburg sicher weitergehen. Setzt ihr euch als nächstes Ziel, auf eine Umsetzung eurer bislang abgelehnten Forderungen hinzuarbeiten? Oder seht ihr eure Schwerpunkte derzeit woanders?
Sowohl als auch. Wir haben von Anfang an kommuniziert, dass der Stadtratsbeschluss, Aschaffenburg zu einem sicheren Hafen zu erklären in erster Linie Symbolcharakter hat. Zumindest gerät damit die Tatsache, dass täglich Menschen im Mittelmeer auf der Flucht ertrinken nicht in Vergessenheit.
Aber ein bisschen Hoffnung auf mehr ist damit für uns doch verbunden. Über 50 Städte haben sich in den letzten Wochen und Monaten zu sicheren Häfen erklärt. Sie haben sich damit zumindest ein wenig auch zu „rebellischen“ Städten erklärt, die auf die kommunale Befassungskompetenz scheißen und der Politik eines Seehofers und Salvini die Stirn bieten wollen.
Mit der Entscheidung sich zu einem sicheren Hafen zu erklären, erklären sich die Städte gleichzeitig solidarisch mit Menschen auf der Flucht und Geflüchteten. Das ist allerdings noch lange nicht genug. Neben dem sich solidarisch zu erklären, muss es vielmehr darum gehen solidarisch zu leben. Darum geht es uns in unserer Initiative einer Solidarischen Stadt Aschaffenburg.
Bei unserer antirassistischen Arbeit ist uns zunehmend bewusst geworden, dass es nicht allein darum gehen soll kurzfristige Aktionen umzusetzen oder Abwehrkämpfe zuführen, sondern dass es auch einer Utopie bedarf. Unsere Utopie ist die Idee einer solidarischen Stadt Aschaffenburg, einer Stadt für Alle, unabhängig von ihrer Herkunft und von ihrem Aufenthaltsstatus. Die Solidarische Stadt steht für die Vision einer offenen, sozialen und gerechten Gesellschaft, die versucht Ausgrenzung, Armut und Prekarisierung zu überwinden und dies gleichzeitig auch in konkreten praktischen Initiativen lebendig werden lässt.
Mit der Idee einer Solidarischen Stadt wollen wir Alltagskämpfe, das Recht auf Wohnen, auf Bildung und kulturelle Teilhabe, das Recht auf medizinische Versorgung miteinander verbinden, uns mit AkteurInnen aus diesen Themenfeldern vernetzen und so für gleiche Rechte für alle Menschen in unserer Stadt, für eine offene und solidarische Gesellschaft eintreten.
361°: Wer Interesse hat bei euch mitzumachen, wie seid ihr erreichbar?
Wir haben eine Emailadresse und ein Facebook-Profil. Außerdem treffen wir uns in der Regel jeden ersten und dritten Mittwoch im Monat im Stern in der Platanenallee 1. Unsere Treffen sind offen für alle, die sich für unsere Themen interessieren und sich gerne mal mit uns unterhalten oder auch mitmachen wollen. Wir freuen uns! 🙂
Mehr Infos zum Thema Solidarity City:
https://solidarity-city.eu/de/
https://www.facebook.com/WelcomeToStayAB/
361°: Wir bedanken uns für die ausführliche Beantwortung der Fragen!